Krise der Kapitalakkumulation als Hintergrund multipler Krisendynamiken

Erster Termin der Ringvorlesung des Referats für politische Bildung des Stura und der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

Von einem Mangel an Krisendiskursen kann im gegenwärtigen Stadium des kapitalistischen Weltsystems wahrlich keine Rede sein. Die Krise der Lohnarbeit und der Arbeitsgesellschaft, die Krise der Sozial-, Gesundheits- und Rentensysteme, die Krise der Bildung, der politischen Repräsentation, des Nationalstaats und der europäischen Integration, die Krise der Finanzökonomie, die globale Staatsschulden und Währungskrise oder auch die ökologische Krise, die ’Flüchtlingskrise’, die Krise der Reproduktionstätigkeit und der Geschlechterverhältnisse dominieren schließlich allerorts die politischen und medialen Debatten. Genau betrachtet erweisen sich gerade diese multiplen Krisendiskurse aber als Ausdruck eines hochgradig fragmentierten Krisenbewusstseins, dass die immanenten Zusammenhänge der verschiedenen Krisenausprägungen und ihre Ursachen im grundsätzlich krisenhaften Charakter der Kapitalakkumulation und der ihr entsprechenden Produktionsverhältnisse verdeckt. Vielmehr gilt die unbedingte Sicherung und Anreizung der Akkumulation und des Wirtschaftswachstums meist unhinterfragt als universeller Schlüssel zur Lösung jeder einzelnen Krise.

Der Vortrag stellt demgegenüber die Frage nach den hintergründigen Ursachen und Funktionen der Krisen in den prozessierenden Widersprüchen des Kapitalverhältnisses selbst ins Zentrum. Welche Funktionen haben Disproportions-, Unterkonsumtions-, Überakkumulations- und Finanzkrisen für die Kapitalakkumulation? Wie unterscheiden sich die ’normalen’ zyklischen Krisen – in denen Marx die Mechanismen der temporären gewaltsamen Ausgleichung der Widersprüche des Kapitalismus und zugleich einen Motor seiner Entwicklung sah – von langfristig eskalierenden Krisendynamiken, die die Bestandsbedingungen der kapitalistischen Gesellschaftsformation unterminieren? Inwiefern können die verschiedenen sozialen, politischen und kulturellen Krisenausprägungen als konkrete Ausdrucks- und Vermittlungsformen solcher grundlegenden Krisendynamiken und ihrer umkämpften politischen Verarbeitung verstanden werden? Nicht zuletzt soll dabei die Frage diskutiert werden, ob die seit den 1970er Jahren andauernde strukturelle Akkumulationskrise mit den ’bewährten Mitteln’ des keynesianischen oder neoliberalen Krisenmanagements adäquat bearbeitet werden kann, oder ob diese ihrerseits zur Verschiebung der Strukturkrise in immer weitere gesellschaftliche Bereiche beitragen.

Referent: Tino Heim (TU Dresden)

Ringvorlesung: Gesellschaftskritik in der Krise

In der Weltwirtschaftskrise 2007/2009 konstatierte selbst der gesellschaftstheoretische Mainstream eine grundlegende Krise des Kapitalismus. Neue Krisenausprägungen sind hinzugekommen, alte haben sich verschärft. Die damit eng zusammenhängende wachsende politische Polarisierung und der Aufstieg rechtspopulistischer Parteien und Bewegungen geben Anlass, Ursachen und Wesen der Gesellschaftskrise zu hinterfragen.

Dabei bedarf auch die Krise der Kritik selbst, das Fehlen eines Aufschreis kritischer Intellektueller und eines wirksamen Streitens um kulturelle Hegemonie, der Aufarbeitung. Warum fehlen in der Parteienlandschaft wie in den Gewerkschaften bei allem wachsenden Krisenbewusstsein Positionen, die eine dezidiert linke Kritik am gesellschaftlichen Status Quo verbalisieren? Warum bleibt die Kritik in aktuellen Sozialen Bewegungen oft oberflächlich und begrifflos? Wie lassen sich verschiedene Krisenausprägungen auf adäquate Begriffe bringen? Wo kann eine der gegenwärtigen Krise entsprechende Neubestimmung der theoretischen Grundlagen von Kritik an Klassikern der kritischen Gesellschaftstheorie – von Marx über Gramsci und die Frankfurter Schule bis zu Foucault – anknüpfen und wo sind neue Ansatzpunkte linken Denkens erfordert?

Pierre Bourdieu hatte eine „ökonomische Alphabetisierungskampagne" gefordert. Diese tut dem sozialwissenschaftlichen Denken, dass die Reflexion auf die strukturellen Bedingungen vieler sozialer Phänomene in den kapitalistischen Produktionsverhältnissen oft über Bord geworfen hat, heute ebenso Not, wie eine sozialwissenschaftliche Alphabetisierung der Ökonomie erfordert wäre, um ‘Marktgesetzte’ nicht als unabwendbare Naturgesetze zu begreifen, sondern als Ausdruck, historisch gewordener und damit veränderbarer gesellschaftlicher Verhältnisse.

Krisen sind immer auch der Beginn von etwas Neuem und können als Chancen und Aufbruchssignale wirken. Ob und wie solche Chancen in konkreten gesellschaftlichen Kämpfen genutzt oder verspielt werden hängt nicht zuletzt von den Fähigkeiten zur Reflexion auf die Ursachen und Wirkungszusammenhänge der Krisen und auf die möglichen Bedingungen anderer Formen der Vergesellschaftung ab.